Geopolitische Beratung ist heute für Unternehmen unverzichtbar. Timo Blenk, CEO von Agora Strategy, erklärt im Interview, wie Firmen geopolitische Risiken erkennen, Resilienz aufbauen und ihre Unternehmensstrategie an globale Umbrüche anpassen können.

Zwischen dem traditionsreichen Residenztheater und der eleganten Maximilianstraße, mitten im Herzen Münchens, sitzt eine Firma, die den Puls der Weltpolitik liest: Agora Strategy. Von der Residenzstraße 7 aus, nur wenige Schritte entfernt vom Bayerischen Hof, jenem Hotel, das einmal im Jahr zum Nabel der internationalen Sicherheitsdebatten wird, berät das Unternehmen Vorstände und Regierungen in Fragen, die weit über Aktienkurse oder Lieferketten hinausgehen.
Die Nähe ist nicht nur geografisch: Agora Strategy ist 2015 aus dem Umfeld der Münchner Sicherheitskonferenz hervorgegangen, jenem einzigartigen Forum, das jedes Jahr Staats- und Regierungschefs, Generäle, Geheimdienstchefs und CEOs zusammenführt. Wer hier Gehör findet, bewegt sich im innersten Zirkel globaler Sicherheits- und Machtfragen. Und genau dieses Wissen, wie Risiken und Chancen im Spannungsfeld von Politik, Wirtschaft und Sicherheit ineinandergreifen, übersetzt Agora in handfeste Unternehmensentscheidungen.
An diesem Ort, zwischen politischem Parkett und wirtschaftlicher Schaltzentrale, trifft Militär Aktuell CEO Timo Blenk, um zu verstehen, wie man Geopolitik in Geschäftsstrategien gießt und warum sich selbst Industrievorstände plötzlich für Rüstungsausgaben, Handelsabkommen oder Sanktionen interessieren müssen.
Herr Blenk, Ihr Unternehmen bietet geopolitische Beratung an. Vor fünf oder zehn Jahren galt das noch als Nischenthema. Warum ist die Nachfrage heute so groß?
Man diskutiert längst nicht mehr ob Geopolitik relevant ist, sondern nur noch wie man damit umgeht. Unser Kerngeschäft ist, geopolitische Dynamiken, Chancen und Risiken für Industrieunternehmen zu übersetzen. Etwa 80 Prozent unserer Arbeit betreffen die Privatwirtschaft, 20 Prozent Regierungs- und Parlamentsberatung, etwa für das Europäische Parlament. Die Nachfrage ergibt sich aus einer weltweiten Phase tiefgreifender Umbrüche: Die Zahl globaler Konflikte hat sich in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt, deren durchschnittliche Dauer ist von sieben auf über zwölf Jahre gestiegen. Klimawandel, Bevölkerungswachstum und knapper werdende Ressourcen verschärfen den Wettbewerb um Rohstoffe und Märkte. Unternehmen können sich nicht mehr hinter dem Satz „Wir machen Wirtschaft, keine Politik” verstecken. Alles ist politisch, ob man will oder nicht.
„Unser Kerngeschäft ist, geopolitische Dynamiken, Chancen und Risiken für Industrieunternehmen zu übersetzen.“
Betrifft das wirklich alle Unternehmen? Auch ein kleines lokales Gewerbe, sagen wir eine Bäckerei?
Absolut. Die Eckbäckerei ist nicht unser Kunde, aber auch sie ist betroffen. Als Russland die Ukraine angegriffen hat, wurden gezielt Getreideexporthäfen attackiert. Die Preise stiegen weltweit. Gleichzeitig verhängte Indien einen Exportstopp aufgrund einer historischen Hitzewelle. Das führte zu Hungersnöten in Afrika, steigender Migration nach Europa und hier direkt zu höheren Preisen für Mehl. Das ist Geopolitik im Alltag. Ähnlich bei kritischen Rohstoffen wie Germanium, Kobalt oder Kupfer, die für Elektromobilität oder Rüstung essenziell sind. China kontrolliert bei vielen Mineralien über 90 Prozent der Raffinierung. Solche Abhängigkeiten verändern ganze Geschäftsmodelle.
Was genau können Sie für Unternehmen tun und wie viele Beratungen dieser Art gibt es überhaupt?
In dieser Spezialisierung gibt es in Deutschland und im deutschsprachigen Raum nur uns, europaweit vielleicht einige wenige mit anderen Schwerpunkten. Wir sind vor zehn Jahren aus dem Umfeld der Münchner Sicherheitskonferenz entstanden, damals, weil Unternehmen nach genau dieser Art Beratung gefragt haben, die Konferenz selbst als gemeinnützige Organisation das aber nicht leisten konnte. Heute arbeiten wir mit über 360 Expertinnen und Experten weltweit. Der erste Schritt für uns ist, gemeinsam zu verstehen: Was passiert geopolitisch und was davon ist wirklich relevant? Ein Prozent der Informationen ist entscheidungsrelevant, der Rest nur interessant. Im zweiten Schritt geht es um Entscheidungen unter Unsicherheit: Wo investiere ich? China oder USA? Drohen Sanktionen? Wie sichere ich Lieferketten oder Technologiezugang? Der dritte Schritt ist die Umsetzung, wenn Produktionsstrukturen oder digitale Zwillinge verlagert oder aufgebaut werden müssen. Hier arbeiten wir eng mit Porsche Consulting als strategischem Partner zusammen.
Wenn Sie die wichtigsten geopolitischen Risiken und Dynamiken heute ranken müssten, was stünde ganz oben?
Wir arbeiten mit einer Chancen-Risiko-Matrix, die wir quartalsweise aktualisieren. Für Europa sind derzeit fünf Themen dominant: Erstens: Der russische Angriff auf die Ukraine, mit enormen wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Folgen. Zweitens: Der Schutz kritischer Infrastruktur, insbesondere Cyberangriffe. Drittens: Der Nahe und Mittlere Osten. Das ist ein Pulverfass. Die Energieversorgung Europas hängt an der Straße von Hormus. Wird sie blockiert, wird es ernst. Viertens: Die politische Lage in den USA. Die Trump-/MAGA-Bewegung basiert auf einem identitären Überlegenheitsverständnis. Das erschüttert den Kern westlicher Demokratie. Fünftens: Die Währungssicherheit und Staatsverschuldung, in den USA wie in Europa. Angesichts von Rekordschulden, steigende Zinsen, politische Lähmung raten wir zu Hedging-Strategien und Absicherungen.
Sind Unternehmen Ihrer Meinung nach ausreichend sensibilisiert oder eher zu naiv?
Viele sind erschreckend naiv. Man wirft oft der Politik Blauäugigkeit vor, aber Unternehmensstrukturen sind oft nicht besser. Häufig braucht es erst ein Scheitern, bevor gehandelt wird. Familiengeführte Firmen sind oft weiter, weil sie langfristiger denken als börsennotierte Konzerne. Es gibt positive Beispiele, aber insgesamt ist das geopolitische Mindset noch im Aufbau.
Welche Branchen kommen besonders stark auf Sie zu?
Im Moment kommt sehr viel aus dem Verteidigungsumfeld oder von Unternehmen, die dorthin expandieren wollen, etwa aus der Automobilindustrie. Viele werden daran scheitern, weil Defence nach ganz eigenen Regeln funktioniert. Stark vertreten sind außerdem Maschinenbau, Rohstoff- und Konsumgüterindustrie, Lebensmittel- und Pharmabereich, besonders wegen Klimawandel und Bodenveränderungen, sowie Hightech, Cyber und Raumfahrt.
„Familiengeführte Firmen sind oft weiter, weil sie langfristiger denken als börsennotierte Konzerne.“
Wie gehen Sie mit heiklen Mandaten um? Gibt es rote Linien?
Ja, und das sehr konsequent. Wir haben von Anfang an nie für russische Unternehmen gearbeitet, auch nicht vor dem Krieg. Die Eskalationsspirale war über Jahre sichtbar: Georgien 2008, Krim 2014, politische Morde und Giftanschläge. Auch Einzelpersonen lehnen wir grundsätzlich ab, etwa reiche Privatakteure, die politischen Zugang suchen. Bei Konzernen wie Huawei prüfen wir sehr genau, ob Interessenkonflikte mit bestehenden europäischen oder US-Kunden entstehen würden.
Wie ist Ihre heutige Verbindung zur Münchner Sicherheitskonferenz?
Institutionell sind wir komplett getrennt. Am Anfang haben die Gründer, darunter Wolfgang Ischinger, viel Netzwerk eingebracht. Über Ausschreibungen, Empfehlungen und Projekte ist daraus unser globales Expertennetz gewachsen. Ab etwa 250 Expertinnen und Experten hatte das eine kritische Masse, heute sind es mehr als 350.
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Noch ein Blick auf den US-Markt: Gibt es dort schon Rückzugstendenzen oder Einschränkungen?
US-Unternehmen, die in Europa aktiv sind, müssen lokale Anforderungen erfüllen: europäische Governance, unabhängige Aufsicht, Sicherheitszusagen gegenüber Regierungen. Gleichzeitig ist Europa in vielen Bereichen ohne amerikanische Technologie kaum handlungsfähig. Stichwort Cloud, Hyperscaler, Satelliten, Luftabwehr. Es geht also nicht um Rückzug, sondern um Resilienz. Die Gretchenfrage lautet daher: Wie schafft man gegenseitige Absicherung und vertrauenswürdige Strukturen?
Sie sagen, wir stehen in einer fundamentalen Veränderung, aus der es kein Zurück gibt. Was bedeutet das konkret für europäische Staaten wie Österreich?
Wir müssen akzeptieren, dass Sicherheit wieder harte Realität ist, nicht Theorie. Dazu gehört, dass sich Staaten technologisch, militärisch und wirtschaftlich breiter aufstellen. Österreich wird sich die Frage der NATO-Mitgliedschaft vielleicht früher stellen müssen, als man es heute noch wahrhaben will. Und Europa insgesamt muss neue Partner stärker einbinden, etwa Südkorea, Japan, Indonesien oder Australien, um Abhängigkeiten, etwa von China, zu reduzieren. Entscheidend ist: Kein europäisches Land ist groß genug, um alleine Resilienz sicherzustellen. Entweder man handelt gemeinsam oder man verliert Handlungsmacht.
„Österreich wird sich die Frage der NATO-Mitgliedschaft vielleicht früher stellen müssen, als man es heute noch wahrhaben will.“
Sie sprechen auch von Resilienz als Aufgabe jedes Einzelnen. Was muss sich auf gesellschaftlicher und unternehmerischer Ebene konkret ändern?
Resilienz fängt nicht bei der Politik an, sondern beim Mindset. Politik muss unbequeme Wahrheiten offen aussprechen: Sicherheit kostet etwas. Das kann weniger Sozialausgaben bedeuten oder mehr Erbschaftssteuer – aber es ist verkraftbar. Gleichzeitig müssen Staaten schneller, pragmatischer und ohne Doppelstrukturen investieren, etwa in Luftverteidigung, Cyberabwehr und Weltrauminfrastruktur. Unternehmen wiederum müssen ihre Lieferketten, Rohstoffpartnerschaften und Technologiezugänge neu denken. Und Bürgerinnen und Bürger müssen verstehen, dass ein handlungsfähiger Staat auch Vertrauen schafft. Das ist das beste Mittel gegen Rechtspopulismus. Entscheidend ist: Verhandeln kann man nur aus einer Position der Stärke, und dahin müssen wir erst wieder kommen.
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