Die Einsätze von ballistischen Raketen durch Russland und den Iran bleiben nicht ohne Folgen für die Rüstungspläne Europas. Nachdem die Beschlüsse zum massiven Aufwuchs von modernen Flug- und Raketenabwehrsystemen faktisch durch sind (-> Die NATO plant ihre Luft- und Raketenabwehr zu stärken), macht man sich nun auch zunehmend über weitreichende konventionelle Abschreckung Gedanken.
Europa hat nach Aufkündigung des INF-Vertrages im August 2019 bislang keine bodengestützten Waffensysteme mit Reichweiten zwischen 500 und 5.500 Kilometer entwickelt, obwohl entsprechende Systeme aus russischer, nordkoreanischer und iranischer Produktion vielfach täglich auf die Ukraine abgefeuert werden.

Schon im Jänner 2022 hatten die Houthis Abu Dhabi, die Hauptstadt der Vereinigten Arabischen Emirate, mit ballistischen Raketen angegriffen. 2023 und 2024 schossen sie dann auch auf Israel und die Hisbollah wiederum schoss im September eine ballistische Rakete auf das Mossad-Hauptquartier in Tel Aviv.
Besonders prägend war der iranische Angriff auf Israel im April. Die Abwehr der rund 300 anfliegenden iranischen Raketen und Drohnen hat der Koalition an Israel unterstützenden Kräften in nur einer Nacht Lenkwaffen im Wert von mehr als eine Milliarde Euro gekostet. Allerdings: 99 Prozent der iranischen Waffen in dieser „ersten ballistischen Schlacht der Geschichte” konnten durch den Einsatz von Raketenabwehrsystemen und Abfangjägern unschädlich gemacht werden.
Der Beschuss der ukrainischen Großstadt Dnipro mit einer Mittelstreckenrakete wird inzwischen als Erschütterung im Verteidigungs-Mikrokosmos bezeichnet. Es war das erste Mal in der Geschichte, dass eine so schwere Rakete auf ein Ziel abgefeuert wurde.
All das zeigt, dass konventionelle Schlagabtäusche über große Entfernung keine Theorie mehr sind, sondern inzwischen tagtägliche Realität. Europa fehlt es an konventionellen Abschreckungskapazitäten.

In Folge haben Polen, Deutschland, Frankreich und Italien am Rande des NATO-Gipfels 2024 in Washington die Absicht kundgetan, die Entwicklung bodengestützter Marschflugkörper mit einer Reichweite von mehr als 500 Kilometern voranzutreiben.
Nun berichtet das französische Wirtschaftsmagazin „Challenges” von Überlegungen Frankreichs betreffend der Entwicklung einer konventionellen ballistischen Rakete, möglicherweise mit einer Reichweite von mehr als 1.000 Kilometern.

Die einzige französische Waffe, die damit vergleichbar wäre, ist die M51 an Bord der Triomphant-Atom-U-Boote. Vier dieser „Sous-marin nucléaire lanceur d’engins” (Atom-U-Boot mit Raketenstartrampen) sind Teil der „Force océanique stratégique” (strategische Ozeanstreitkräfte). Zwei der U-Boote sind üblicherweise ständig auf See. Jedes der Boote ist in der Lage, 16 Raketen mit je sechs bis zehn nuklearen Wiedereintrittskörpern mit je 100kt oder 150kt Sprengkraft zu tragen.Die Reichweite der „Mer-Sol-Balistique-Stratégique# (See-Land-ballistisch-strategisch) Rakete M51 wird mit mehr als 8.000 Kilometer angegeben. Diese in Summe 60 Raketen sind die einzigen Interkontinentalraketen im Besitz eines EU-Staates. Deren Problem: Sie sind ausschließlich zur nuklearen Abschreckung entwickelt und gebaut worden. Ihr Einsatz würde mit einem globalen nuklearen Schlagabtausch einhergehen, einem nuklearen Holocaust.
Über eine landgestützte, vor allem auch konventionelle, ballistische Fähigkeit verfügt derzeit kein EU-Staat. Sollte sich Frankreich dazu entschließen müsste die neue Rakete in der Lage sein, die fortschrittlichsten Raketenabwehrsysteme zu durchdringen.
Der französischen Nationalversammlung wurde für 2025 im Kapitel Verteidigung/Aufrüstung-Abschreckung ein Entwurf vorgelegt, der massive Investitionen in die Abschreckung und kontinuierliche Erneuerung der konventionellen Fähigkeiten in diesem Bereich vorsieht.