Der Aufbau eines leistungsfähigeren europäischen Luftverteidigungs- und Raketenabwehrsystems steht im Mittelpunkt der deutschen European Sky Shield Initiative (ESSI, -> Österreich tritt der Sky Shield Initiative bei). Während der Bereich der Luftverteidigung – also der Schutz gegen Hubschrauber, Flugzeuge, Drohnen und Marschflugkörper – in Europa durch eine Vielzahl von Anbietern und Produkten gut aufgestellt ist, zeigt sich im Bereich der Raketenabwehr ein deutliches Defizit. Eine (nicht vollständige) Marktübersicht.
Rohrwaffen (Reichweite: 1 bis 3 Kilometer, Höhe: bis zu 1 Kilometer)
Lange Zeit von vielen Armeen außer Dienst gestellt, rücken Rohrwaffen angesichts der zunehmenden Bedrohung durch fliegende Kleinkriegsmittel wieder in den Fokus. Im Bereich der Nah- und Nächstverteidigung dienen sie sowohl zur Bekämpfung von Zielen am Boden als auch in der Luft. Moderne Systeme ermöglichen dabei eine zielkategoriespezifische Programmierung der Granaten, wodurch ihre Wirkung an die jeweiligen Einsatzanforderungen angepasst werden kann.
Zahlreiche Armeen und Hersteller arbeiten derzeit daran, die weit verbreiteten ferngesteuerten Waffenstationen auf Fahrzeugen auch für den Einsatz gegen Luftziele zu optimieren. Automatische Zielerkennung mit KI, präzise Zielverfolgung, Vorhaltberechnung und Stabilisierung steigern dabei die Treffsicherheit der Geschütze erheblich.
Auch das Bundesheer setzt auf diese Weiterentwicklung: Gemeinsam mit Industriepartnern wird die Panther-Waffenstation, die primär auf den Pandur Evolution-Radpanzern montiert ist, gezielt für diese Anforderungen ausgebaut.
Die nächstgrößere Kategorie im Bereich der Luftverteidigung bilden Fliegerabwehrkanonen. Während viele Nationen hier noch zurückhaltend agieren, hat das Bundesheer eine Vorreiterrolle übernommen. Als erstes europäisches Militär erteilte es Rheinmetall Air Defence in der Schweiz den Auftrag zur Modernisierung des 35-mm-Luftabwehrsystems – ein Schritt, den Rheinmetall als „eines der ambitioniertesten Vorhaben in der europäischen Flugabwehr” bezeichnete.
Nur wenige Monate später wurde dieses Vorhaben noch weitreichender: Mit der Beschaffung von 36 Skyranger 30-Flugabwehrsystemen auf dem 6×6 Pandur Evolution von General Dynamics European Land Systems-Steyr sichert sich Österreich eine Schlüsselrolle in der mobilen bodengebundenen Luftverteidigung.
Auch BAE Systems Bofors setzt auf innovative Konzepte und hat das Tridon-System wieder aus der Schublade geholt (-> Tridon-Kanonen für die Ukraine). Dabei handelt es sich um ein mobiles 40-Millimeter-Fliegerabwehrgeschütz, das mit programmierbarer Munition ausgestattet ist und das neue Maßstäbe in der Luftabwehr setzen könnte.
MANPADS (Reichweite: 5 bis 7 Kilometer, Höhe: bis zu 4 Kilometer)
Die europäische Rüstungsindustrie bietet eine breite Palette tragbarer Boden-Luft-Raketen mit sehr kurzen Reichweiten an. Besonders in aktuellen Konflikten haben sich diese leichten Systeme als äußerst wirkungsvoll erwiesen.
Ein herausragendes Beispiel ist die polnische PPZR Piorun, die sich in der Ukraine (-> aktuelle Meldungen aus dem Ukraine-Krieg) als äußerst effektiver „Tiefflug-Killer” bewährt hat. Mit dieser Rakete wurden eine Vielzahl russischer Luftfahrzeuge abgeschossen, darunter Su-25-, Su-34- und Su-30SM-Kampfflugzeuge, Mi-8/17- und Mi-24-Hubschrauber, Ka-52 Kampfhubschrauber sowie diverse Marschflugkörper.
Dieser Erfolg hat auch die Nachfrage beflügelt: Zwischen Mitte 2022 und Ende 2024 produzierte und verkaufte der Hersteller 2.000 Piorun-Raketen.
Ein weit verbreitetes System in diesem Bereich ist auch die französische Mistral von MBDA. Beim Bundesheer ist diese Waffe seit 1995 im Bestand, derzeit wird die dritte Generation ausgeliefert. Das System profitiert von einer EDIRPA-Finanzierung der Europäischen Union, welche die gemeinsame Beschaffung durch neun Mitgliedstaaten – Belgien, Dänemark, Estland, Frankreich, Rumänien, Slowenien, Spanien, Ungarn und Zypern – mit 60 Millionen Euro unterstützt.
Während Piorun und Mistral auf Infrarotlenkung setzen, basieren konkurrierende Systeme auf Leitstrahl-Technologie.
Ein Beispiel ist das Robot System 70 (RBS 70) von Saab, das zur Zielmarkierung Laserstrahlen verwendet, um der Rakete eine präzise Flugbahn vorzugeben. Ein vergleichbares System nutzt die britische Thales Starstreak, die mit einer Geschwindigkeit von über Mach 3 die mit Abstand schnellste MANPADS-Rakete weltweit ist.
Kurzstrecke (Reichweite: bis zu 20 Kilometer, Höhe: bis zu 10 Kilometer)
Ein internationaler Trend im Bereich Kurzstrecken-Boden/Luft-Raketen ist die Anpassung von Luft-Luft-Raketen für den bodengebundenen Einsatz.
Ein prominentes europäisches Beispiel ist die Iris-T SLS von Diehl Defence. Die Iris-T dient als primäre Kurzstreckenrakete des Eurofighters und der Saab Gripen – ihre Bodenversion nutzt dieselbe leistungsfähige Infrarot-Zielerfassung, um eine effektive Abwehr gegen Luftziele sicherzustellen.

Ein direkter Konkurrent der Iris-T SLS ist die französische VL Mica von MBDA. Ihre besondere Stärke liegt in der Wahl des Suchkopfes: Die Rakete ist sowohl mit Infrarot- als auch Radarlenkung erhältlich, was ihre Flexibilität im Einsatz deutlich erhöht.
Wie schnell in diesem Bereich funktionale Lösungen entstehen können, zeigt die britische AIM-132 ASRAAM in ihrer bodengebundenen Variante. Innerhalb von nur vier Monaten entwickelte MBDA das Gravehawk-Luftabwehrsystem, das auf einem Supacat-Geländefahrzeug basiert. Dieses hochmobile System ist bereits in der Ukraine im Einsatz und beweist, dass moderne Luftverteidigung auch in kurzer Zeit realisiert werden kann.
Mittelstrecke (Reichweite: bis zu 40 Kilometer, Höhe: bis zu 20 Kilometer)
Ein zentrales Ziel der deutschen Sky Shield Initiative war es, das Mittelstrecken-Luftverteidigungssystem Iris-T SLM zu priorisieren – und das ist gelungen.
Die Rakete basiert auf der Luft-Luft-Version der Iris-T, wurde jedoch mit einem großen Booster ausgestattet, um eine vertikale Bodenstartfähigkeit zu gewährleisten. Ihr Infrarot-Suchkopf ermöglicht eine präzise Zielerfassung und eine hohe Abwehrwahrscheinlichkeit.
Im Rahmen des EDIRPA-Projekts „Joint Air Missile Defence Initiative in Europe” wird die gemeinsame Beschaffung von Iris-T SLM-Systemen für sechs EU-Mitgliedstaaten – Bulgarien, Deutschland, Estland, Lettland, Österreich und Slowenien – mit 60 Millionen Euro gefördert.

Ein weiterer europäischer Vertreter in der Mittelstreckenkategorie ist die britisch-italienische CAMM-ER (Common Anti-Air Modular Missile) von MBDA.
Dieses System setzt auf radargesteuerte Raketen und hat seinen Ursprung im maritimen Luftverteidigungssystem Sea Ceptor, das ursprünglich für den Schiffseinsatz entwickelt wurde.
In der bodengestützten Version haben sich Großbritannien und Polen für die CAMM-ER entschieden (-> Milliardenauftrag für MBDA aus Polen), um ihre Luftverteidigung mit einer flexiblen und leistungsfähigen Abfanglösung zu verstärken.
Langstrecke (Reichweite: 80 bis 100 Kilometer, Höhe: bis zu 25 Kilometer)
Das französisch-italienische SAMP/T NG ist das einzige europäische Langstrecken-Luftverteidigungssystem. Bisher haben sich die beiden Herstellerländer Frankreich und Italien für dessen Beschaffung entschieden.
Das System nutzt die zweistufige Aster-Rakete und wird mit geschätzten 500 Millionen Euro pro Batterie (bestehend aus einem Kontrollsystem, einem Radar und sechs Startern) als kostengünstigere Alternative zum US-amerikanischen Patriot-System angesehen – wenn auch mit geringerer Leistungsfähigkeit. Gerade im Bereich der ballistischen Raketenabwehr, die im Langstreckensegment zunehmend an Bedeutung gewinnt, soll das Patriot-System, das etwa doppelt so teuer ist, Vorteile haben.
Aktuell in Entwicklung befindet sich die Iris-T SLX, eine neue Lenkwaffe, die mit einem Dualsucher aus Radar und Infrarot ausgestattet wird. Ihre Marktreife wird gegen Ende des Jahrzehnts erwartet. Allerdings bleibt die SLX ausschließlich auf die Bekämpfung von Luftzielen fokussiert und ist nicht für die anspruchsvollere Abwehr ballistischer Raketen ausgelegt.
Diese Rolle soll erst die Iris-T HYDEF übernehmen, die sich derzeit in der Konzeptphase befindet. Sollte die Entscheidung zur Beschaffung getroffen werden, wäre eine Verfügbarkeit frühestens im nächsten Jahrzehnt realistisch.
Raketenabwehr (Reichweite: 1.000 Kilometer und mehr bis in die obere Atmosphäre und den erdnahen Weltraum)
Derzeit kann die europäische Rüstungsindustrie kein eigenständiges Raketenabwehrsystem anbieten. Die am schnellsten realisierbare Entwicklungsoption wäre die Optimierung von Boostern, die Geschwindigkeiten von Mach 4,5 bis Mach 6 erreichen.
Im Bereich der Radartechnologie sind europäische Unternehmen hingegen gut aufgestellt und könnten relativ zügig hochfrequente Radaranlagen entwickeln, die für die Erfassung ballistischer Bedrohungen erforderlich sind.
Deutlich weniger entwickelt sind jedoch die europäischen Fähigkeiten in der Abfangtechnologie für Ziele in der oberen Atmosphäre und im Vakuum.
Die Grundidee der Raketenabwehr ist dabei simpel, die Umsetzung jedoch extrem anspruchsvoll: Ein Mini-Raumschiff mit Steuerdüsen muss auf Kollisionskurs mit einem anfliegenden Gefechtskopf gebracht werden. Dabei muss der Sensor des Abfangvehikels aus großer Entfernung zwischen echten Gefechtsköpfen und Täuschkörpern unterscheiden können.
Eine vereinfachte Analogie: Es gleicht dem Versuch, mit einer Gewehrkugel ein einziges Schrotkorn aus einer Garbe zu treffen. Zwar sind die Objekte in der Raketenabwehr größer als eine Gewehrkugel, jedoch bewegen sie sich mit extremen Geschwindigkeiten von rund 10.000 km/h über Distanzen von mehreren tausend Kilometern im erdnahen Weltraum.
Das globale Technologiemonopol in der Raketenabwehr liegt de facto bei den US-Unternehmen Raytheon (Patriot, Standard Missile, EKV/GMD) und Lockheed Martin (THAAD, NGI). Selbst die hochentwickelten israelischen Raketenabwehrsysteme wären ohne US-Technologie nicht realisierbar gewesen.
Ein entscheidender Faktor in der Raketenabwehr ist ein globales Frühwarnsystem, da aufgrund der großen Entfernungen und extremen Geschwindigkeiten von ballistischen Raketen eine frühzeitige Erkennung und Zielverfolgung unerlässlich ist.
Hier hat Europa gleich zwei gravierende Nachteile:
- Kein weltraumgestütztes Frühwarnsystem wie das US-amerikanische SBIRS (Space-Based Infrared System) zur Erkennung von Raketenstarts.
- Unzureichende Anzahl und Verbreitung boden- und schiffsgestützter Radaranlagen zur präzisen Zielverfolgung und Koordination von Abfangsystemen.
Es geht also nicht nur um technologisches Know-how, sondern auch um eine ausreichend globale Abdeckung mit einsatzfähigen Sensor- und Abfangsystemen. Eigenständige Raketenabwehrfähigkeiten Europas sind somit derzeit nicht vorhanden und werden es auch noch länger nicht sein.