In unruhigen Zeiten sind es manchmal paramilitärische Verbände, die den Erhalt einer politischen Ordnung sichern oder politische Veränderungen prägend mitgestalten. Selten aber hatte ein so kurz bestehender und so kleiner Verband wie die kretische Gendarmerie so großen Einfluss auf die Geschicke eines Landes – sogar noch nach ihrer offiziellen Auflösung.

Capitano Craveri reicht das jetzt. Er packt den widersätzlichen Gendarmen am Kragen und dann passiert es. Ein Kamerad des Meuterers schießt auf den überraschten Craveri. Dann aber eröffnen die italienischen Seeleute außerhalb des Gebäudes – sie stehen unter Craveris Kommando – das Feuer und strecken etliche der meuterischen albanischen Gendarmen nieder. Geschehen ist dies am 2. März 1897 in Chania, Kreta.

Italienische Seeleute feuern auf meuternde Gendarmen ©Archiv Seehase
Italienische Seeleute feuern auf meuternde Gendarmen in Chania auf Kreta, 1897.

Die Meuterer sind Angehörige der „alten” Gendarmerie Kretas. In osmanischer Tradition haben die türkischen Landesherren zur Aufrechterhaltung der Ordnung auf der Mittelmeerinsel eine aus Albanern bestehende Gendarmerie aufgestellt. Landesfremd, schlecht (oft monatelang gar nicht) bezahlt und argwöhnisch beäugt von der Bevölkerung, ist diese Truppe kaum in der Lage, Ruhe und Ordnung zu garantieren. Deshalb hat man eine „neue” Gendarmerie aufgestellt, diesmal hauptsächlich Montenegriner. Kommandeur ist Major J.H. Bor von den britischen Royal Marines. Die europäischen Großmächte nehmen nämlich regen Anteil an den Geschehnissen auf der Insel. Die gehört zwar zum Staatsverband des Osmanischen Reiches, ist aber kulturell und ethnisch griechisch geprägt.

Seit 1879 hatte Kreta einen semiautonomen Status – welcher hauptsächlich von Großbritannien erzwungen worden ist – und einen christlichen Gouverneur, gehört aber immer noch zum Osmanischen Reich. Der Anschluss Kretas ans griechische Königreich ist nicht nur der Herzenswunsch der meisten Kreter, sondern wird eifrig von Politik und der Gesellschaft Griechenlands propagiert. Die Regierungen der Großmächte sind da etwas zurückhaltender: Natürlich soll die türkische Fremdherrschaft über Kreta, diese Wiege der europäischen Kultur, endlich beendet werden, keine Frage. Aber das europäische Mächtegleichgewicht soll auch nicht durcheinandergebracht werden. Darum scheren sich die kretischen Freischärler aber nicht, die im September 1895 einen Aufstand beginnen, der sich fast über die ganze Insel ausweitet.

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Im Jänner 1897 schickt die griechische Regierung Truppen auf die Insel, diese können die türkischen Truppen in der Schlacht von Livadia am 7. Februar schlagen. An allen anderen Fronten verläuft der offiziell am 18. April erklärte griechisch-türkische Krieg für die Griechen äußerst unglücklich, trotz der Waffenhilfe italienischer Freiwilligenverbände siegen die Türken auf dem Festland. Kreta jedoch wird von den Seestreitkräften Großbritanniens, Frankreichs, Italiens, Russlands und Österreich-Ungarns von etwaigen griechischen oder türkischen Verstärkungen abgeschnitten. Die fünf Mächte schickten auch Truppen auf die Insel. Es übt ein Komitee der kommandierenden Admiräle die Regierungsgewalt aus, solange zumindest, bis der neue Landesherr eintrifft. Das ist Prinz Georg von Griechenland, zweiter Sohn des griechischen Königs und ab dem 9. Dezember 1898 Hochkommissar des autonomen Kreta.

Vorher aber, am 25. August 1898, massakriert ein türkischer Mob Hunderte von griechischen Zivilisten, einige britische Soldaten und einen britischen Konsulatsangehörigen in Heraklion. Jetzt reicht es dem Empire, die bislang verbliebenen türkischen Streitkräfte werden ultimativ zum Abzug gezwungen. Und mit dem allfälligen Rückzug der internationalen Streitkräfte gibt es nun auf Kreta keine bewaffnete Staatsgewalt: Die türkischen Truppen sind endlich fort, die „neue Gendarmerie” hat sich 1897 großteils den kretischen Freischärlern angeschlossen, was von der „alten Gendarmerie” nach dem Feuerschlag der Italiener übriggeblieben ist, wird entlassen. Der Hochkommissar sieht sich großen Aufgaben gegenüber: Da gibt es etwa die muslimische Minderheit auf Kreta, die sich dem osmanischen Reich zugehörig fühlt, oder unterschiedliche politische Lager unter den orthodoxen Kretern, sowie Banditentum im Hinterland.

Zug kretischer Gendarmen ©Archiv Seehase
Zu sehen ist ein Zug kretischer Gendarmen.

Blutrache ist weitverbreitet. Eine verlässliche und schlagkräftige Ordnungstruppe musste her, halb Polizei, halb Militär. Die Großmächte haben während ihrer kurzen Besatzungszeit paramilitärische Verbände geschaffen, deren Kommandeure Prinz Georg im Januar 1899 zum Rapport bestellt. Es zeigt sich, dass nur der italienische Offizier seiner Aufgabe gewachsen ist. Seine Ratschläge werden akzeptiert und im Sommer 1899 die kretische Gendarmerie aufgestellt, nach dem Modell der italienischen Carabinieri. 140 Carabinieri werden als Kader übernommen. Kommandeur wird Capitano Federico Craveri, eben jener, der der Meuterei der „alten Gendarmerie” 1897 ein so jähes Ende bereitet hat. Craveri ist ein Mann der Tat. Er kann sich die besten Rekruten aussuchen: Für die jungen Kreter ist der Dienst in der Gendarmerie eine Ehre.

Als Craveri 1903 das Kommando der kretischen Gendarmerie an seinen Nachfolger Balduino Caprini übergibt, ist die Aufstellung der Truppe fast abgeschlossen. Die kretische Gendarmerie besteht aus einem (sehr starken) Bataillon mit 1.600 Mann Sollstärke. Je eine Kompanie ist einer der fünf Präfekturen zugeordnet. Kompanieführer sind italienische Carabinierioffiziere

Im Winter wurde eine dunkelblaue Uniform getragen, im Sommer eine weiße. Die Konstabler tragen die traditionellen kretischen Hosen (vraka), die Offiziere Reithosen. Alle Ränge haben schwarze Stiefel. Die Konstabler sind mit Gewehren, Bajonetten und Revolvern bewaffnet, oft werden dazu die traditionellen kretischen Messer getragen. Jede Kompanie besteht aus drei oder vier Teileinheiten (ipomirarchies), die von einem Subalternoffizier geführt werden. Jede dieser Teileinheiten besteht aus sechs enomoties, die jeweils von einem Unteroffizier geführt wurden. Hier findet man auch bald die ersten Kreter, oft mit guter Schulbildung.

©Militär AktuellÜber die kretische Gendarmerie

In der ersten Zeit agiert die Gendarmerie sehr erfolgreich, was auch daran lag, dass Craveri sehr gut mit Prinz Georg harmonierte. Und der Prinz hat das Privileg, jeden Unruhestifter von der Insel deportieren zu lassen. Ihre Zerreißprobe hat die Gendarmerie während der Theriso-Revolte, die im März 1905 beginnt. Eleftherios Venizelos, vormals erster Minister des Prinzen Georg, überwirft sich mit seinem früheren Dienstherren. Venizelos fordert einen Anschluss Kretas ans griechische Mutterland, was aber die Großmächte, allen voran Russland und Österreich-Ungarn, ablehnten.

Im Februar 1905 bildet Venizelos eine Gegenregierung im Ort Theriso. Am 23. März brechen die ersten Kampfhandlungen zwischen den Rebellen und der Gendarmerie aus. Die Großmächte zeigen wenig Neigung, sich militärisch gegen die Rebellion zu engagieren, bis auf Russland, das Kanonenboote und Soldaten schickt. Einige Gendarmen laufen zu den Rebellen über, der Großteil bleibt jedoch loyal. Die Rebellion endet im November 1905. Einige Monate später verlässt Prinz Georg Kreta, und am 16. Dezember 1906 übergibt der letzte italienische Kommandeur der Gendarmerie das Kommando an den Griechen Andreas Momferratos.

Kretische Gendarmerie ©Archiv Seehase
Ein Bild der kretischen Gendarmerie.

Im Jahre 1912 gibt es 45 Offiziere, 50 Feldwebel und 1371 Korporäle und Konstabler bei der kretischen Gendarmerie – alles Kreter oder Festlandgriechen. Im Oktober 1912 beginnt der Erste Balkankrieg, der rasch zur Eroberung des Großteils der europäischen Besitzungen des Osmanischen Reiches durch die Griechen, Bulgaren, Serben und Montenegriner führt. Am 26. Oktober übergeben die osmanischen Truppen Thessaloniki der griechischen Armee. Die Stadt gleicht einem Wespennest. Die größte Bevölkerungsgruppe sind die Juden mit 61.000 Einwohnern, die am liebsten eine österreichische Verwaltung sehen würden. Die 43.000 Türken wollen den Verbleib beim Osmanischen Reich, die 40.000 Griechen den Anschluss an Griechenland. Die Gruppe der 6.000 Bulgaren erscheint klein, es sind aber auch bulgarische Truppenverbände in der Stadt sowie kleinere Gruppen bulgarischer Freischärler. Dann sind da rund 5.000 Bewohner unterschiedlicher Nationalitäten, geschützt werden sie durch Kanonenboote und Landungstruppen der jeweiligen Herkunftsländer.

Die Umgebung Tessalonikis ist fast ausschließlich von Griechen bewohnt, es ziehen aber viele türkische Flüchtlinge umher, die Übergriffe der Bulgaren fürchten. In der Stadt sind auch versprengte türkische Soldaten und bewaffnete türkische Gendarmerie. Venizelos, nun griechischer Ministerpräsident, hat eine Idee, um dieses Problem in den Griff zu bekommen: Er beordert die kretische Gendarmerie nach Thessaloniki. Im Stillen hat man schon auf Kreta alle Reserven der Gendarmerie mobilisiert, dann den Großteil der Truppe auf das Festland verbracht. Dass Kreta formalrechtlich noch kein Teil Griechenlands ist (die Deklaration des Anschlusses an Griechenland wird international erst 1913 anerkannt), stört dabei niemanden.

Die kretischen Gendarmen bekommen in der Folge Thessaloniki in den Griff. So verschaffen sie sich den – manchmal widerwilligen – Respekt aller Bevölkerungsgruppen. Am 18. März 1913 wird jedoch der griechische König Georg in Thessaloniki, in dessen Straßen er ohne Leibwache herumspaziert, erschossen. Täter ist ein Anarchist griechischer Herkunft namens Alexandros Schinas. Während in Athen Georgs Sohn Konstantin zum neuen König ausgerufen wurde, begeht Schinas Selbstmord.

Ehrenwache für König Georg ©Archiv Seehase
Nach der Ermordung Georgs hielt die kretische Gendarmerie am Ort des Attentats Ehrenwache.

Drei Monate später, am 17. Juni 1913, greifen die bulgarischen Truppen ohne Kriegserklärung die griechische Armee in und um Thessaloniki an. Die 2. Division der griechischen Armee erhält den Befehl, alle größeren bulgarischen Truppenverbände in der Region zu neutralisieren, die kretische Gendarmerie soll alle kleineren bulgarischen Einheiten ausschalten – Bandenbekämpfung, wie man es auf der Heimatinsel gelernt hat. Die bulgarische Truppen leisten hartnäckigen Widerstand, werden aber bald von griechischen Soldaten und kretischen Gendarmen überwältigt. Dabei gehen die Gendarmen sogar im Bajonettangriff gegen bulgarische Infanterie vor.

Bulgarische Freischärler feuern sogar aus dem bulgarischen Konsulat und aus einer Schule auf griechische Einrichtungen. Ypenomotarchis (Rang in der kretischen Gendarmerie) Emmanuel Tsakonas lässt die Schule von seinen Leuten umstellen. Bis zum nächsten Morgen dauert der Schusswechsel, dann betritt Tsanokas die Schule mit einem Gegenstand, den er als Bombe bezeichnet. Diese will er hochgehen lassen, sollten die Bulgaren nicht mit der Schießerei aufhören und sich ergeben. Das tun die dann auch, würden sie wohl aber nicht, wenn sie wüssten, dass die Bombe in Wirklichkeit eine Flasche Mineralwasser ist.

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Die Bedeutung der kretischen Gendarmerie über 1913 hinaus

Und noch nach ihrer offiziellen Auflösung im Dezember 1913 spielt die kretische Gendarmerie eine Rolle: Ab 1914 spaltet der Erste Weltkrieg Griechenland in die neutrale Fraktion um den neuen König Konstantin, einschließlich des Oberkommandos der Armee, welches nicht in den Konflikt verwickelt werden will, und die Fraktion unter der Leitung des Ministerpräsidenten Venizelos, die fordert, sich den Ententemächten anzuschließen. Das Angebot von Venizelos an die Entente vom 5. März 1915, griechische Truppen an die Dardanellen zu schicken, wird von König Konstantin abgelehnt. Konstantin war immerhin der Schwager vom deutschen Kaiser Wilhelm II.

Gemäß dem serbisch-griechischen Bündnisvertrag vom Mai 1913 mobilisiert Venizelos die griechische Armee im September 1915 und sanktioniert die Landung der alliierten „Armee de l’Orient”, einer Teilarmee der französischen Streitkräfte, in Thessaloniki am 5. Oktober. Bulgarien erklärt daraufhin Griechenland den Krieg, König Konstantin zwingt Venizelos im Dezember 1915 zum Rücktritt.

Bewachung bulgarischer Kriegsgefangener ©Archiv Seehase
Die kretische Gendarmerie wurde im Ersten Weltkrieg etwa zur Bewachung bulgarischer Kriegsgefangener eingesetzt.

Am 25. Mai 1916 übergibt die griechische Armee Fort Rupel an deutsche und bulgarische Truppen, ohne einen einzigen Schuss abzufeuern. Das ist nicht nur eine nationale Demütigung, bulgarische Kräfte beginnen auch unter Bruch der deutschen Zusagen mit der Vertreibung griechischer Bewohner aus der Region. Das stört manchen griechischen Offizier, viele fühlen sich aber durch ihren Treueid auf den König gebunden. Am 30. August organisieren griechische Offiziere einen Staatsstreich in Thessaloniki.

Erste Kämpfe zwischen den Aufständischen und den königstreuen Armeeverbänden führen zu drei Todesopfern, dann gibt der Kommandeur der Ententetruppen in Thessaloniki, General Maurice Sarrail, den französischen Verbänden den Befehl, alle royalistischen griechischen Armeeverbände zu entwaffnen. Die Venizelos-Anhänger etablieren eine Gegenregierung zum monarchistischen Regime in Athen und führen Griechenland an der Seite der Entente in den Krieg.

Venizelos kann sich auch jetzt nur auf eine Einheit wirklich verlassen: Die immer noch in Thessaloniki stationierte kretische Gendarmerie, offiziell nun ein Teil der griechischen Gendarmerie. Eingesetzt werden die Kreter (die mit Stolz ihre aleten Uniformen auftragen) beispielsweise bei der Bewachung bulgarischer Kriegsgefangener.

Quelle©Archiv Seehase