Im Institut für Friedenssicherung und Konfliktmanagement (IFK) ist kürzlich gemeinsam mit der Direktion für Sicherheitspolitik die neueste Ausgabe der Sicherheitspolitischen Jahresvorschau erschienen. Wir haben mit IFK-Leiter Generalmajor Johann Frank die darin abgebildeten Risiken für Österreich analysiert und einen Blick in die Zukunft geworfen.
Herr Generalmajor, wie steht es um die österreichische Sicherheit im Jahr 2021?
Unsere Sicherheit ist gefordert wie schon lange nicht mehr! Wir haben im aktuellen Risikobild mit den strategischen Auswirkungen der Corona-Pandemie einen dominierenden Faktor. Dabei geht es weiterhin vor allem darum, die direkten medizinischen Auswirkungen in den Griff zu bekommen. Darüber hinaus hat Corona aber auch vielfältige sicherheitspolitische Auswirkungen, bestehende Konflikte bekommen dadurch neue Dynamiken, neue Konflikte können entstehen und geopolitische Machtverschiebungen setzen sich fort. Die Pandemie wirkt damit gewissermaßen als Katalysator für Trends und Entwicklungen, die teils schon davor spürbar, aber oft noch nicht sichtbar waren. Unter dem Strich hat sich die österreichische Sicherheitslage damit definitiv nicht verbessert.
Das war auch bei den vergangenen Ausgaben der Sicherheitspolitischen Jahresvorschau bereits der Grundtenor, oder?
Ja, allerdings gibt es nun einen gravierenden Unterschied: Einige der bislang eher abstrakt-generisch analysierten Risiken sind in der Zwischenzeit tatsächlich eingetreten.
Sie sprechen von der Pandemie und dem Terroranschlag in Wien?
Genau. Es haben darüber hinaus auch massive Cyberzugriffe etwa auf das Außenministerium stattgefunden. Zudem ist Österreich – wenn auch auf niedrigem Niveau – zunehmend hybriden Einflussnahmen ausgesetzt, sichtbar geworden etwa durch die Spionagefälle, Desinformationskampagnen rund um Corona oder die österreichische Blockade im Rahmen der NATO-Partnerschaft für den Frieden. Anders als oft dargestellt ist Österreich also keine Insel der Seligen, die österreichische Sicherheitspolitik steht angesichts dieser mannigfaltigen Herausforderungen vor einem Bewährungsfall.
„Corona hat auch vielfältige sicherheitspolitische Auswirkungen, bestehende Konflikte bekommen dadurch neue Dynamiken, neue Konflikte können entstehen und geopolitische Machtverschiebungen setzen sich fort.“
Welche weiteren Risiken sollten wir unbedingt auf dem Radar haben?
Natürlich resilienzgefährdende Extremereignisse wie Großschadensfälle und Blackouts, ein solches Szenario konnte Mitte Jänner ja nur mit erheblichen Anstrengungen vermieden werden. Ganz grundsätzlich berücksichtigen wir in unseren Analysen neben der nationalen Ebene aber auch die globale und regionale Ebene. Diese Ebenen stehen miteinander in Wechselwirkung und internationale Krisen wirken sich unter den heutigen Rahmenbedingungen zunehmend auch auf Österreich aus. Das ist in diesem Ausmaß neu und unterscheidet die aktuelle Sicherheitslage von der Vergangenheit.
Lassen Sie uns mit der globalen Ebene beginnen.
Da steht vor allem der Systemkonflikt USA-China im Zentrum. Dieser wird sich unabhängig vom Kopf an der Spitze der US-Administration insbesondere im finanzpolitischen und wirtschaftspolitischen Bereich weiter verschärfen. Das schließt auch eine punktuelle Eskalation etwa maritimer Natur im pazifischen Raum ein. Für Europa stellt sich dabei die Frage, auf welche Seite man sich stellen wird. Abhängig von der Entscheidung ist mit einer negativen hybriden Einflussnahme des Gegenübers zu rechnen. Da reden wir von wirtschaftlichen Maßnahmen und von Sanktionen, aber auch dem Verschließen von Markt- und Technologiezugängen.
Könnte sich Europa diesem Risiko entziehen, indem man eine neutrale Rolle einnimmt? Oder gibt es da nur die Devise „für uns oder gegen uns”.
Das wird die Schlüsselfrage sein, wobei Europa aufgrund seiner Wertebasis ganz sicher nicht neutral ist, sondern klar im Lager des Westens steht. Allerdings ist China aus der Sicht Brüssels nicht nur ein Rivale, sondern auch ein Partner, der wirtschaftliche Chancen eröffnet. Aus meiner Sicht sollte Europa daher in dieser Auseinandersetzung auf seiner eigenen Seite stehen. Dafür müsste aber natürlich die strategische Autonomie sowie die eigene wirtschaftliche und militärische Handlungsfähigkeit erhöht werden.
Kommen wir zur regionalen Ebene.
Da gewinnen nach dem Rückzug der ehemaligen Ordnungsmacht USA, an dem auch der neue Präsident Joe Biden nichts Gravierendes verändern wird, die Flügelmächte Russland und Türkei sowie Akteure aus der Golfregion an Handlungsspielraum, den sie aktivistisch ausnützen. Europa ist auch deshalb mittlerweile von einem Gürtel von Krisen umgeben, der von Westafrika bis zum Nahen Osten und in den Kaukasusraum hineinreicht. Das einzig Stabile in dieser Nachbarschaft ist die Instabilität und angesichts der Bestrebungen der genannten Akteure werden dort wohl weitere Krisen und Konflikte ausbrechen, während bestehende Konflikte nicht gelöst werden.
Das jetzt schon unsichere Umfeld wird also noch unsicherer?
Damit ist jedenfalls zu rechnen. Ohnedies schon krisengeschüttelte Staaten werden auch aufgrund der wirtschaftlichen Auswirkungen der Coronakrise wohl noch mehr unter Druck kommen und vielerorts dürften die staatlichen Strukturen kaum mehr ausreichend in der Lage sein, die Grundversorgung für die Bevölkerung sicherzustellen. Das liefert dann allen Formen des Extremismus bis hin zu Radikalisierung und Terrorismus einen Nährboden. Die Gefahr ist, dass dies auch bislang stabile Ankerstaaten in der Region betrifft – wie Algerien, Ägypten und Jordanien.
Könnten Moskau, Ankara und die Golfstaaten nicht langfristig auch eine stabilisierende Wirkung auf die Region haben? Kein Land dürfte schließlich ein Interesse an Kriegen, Konflikten und Instabilitäten unmittelbar vor seiner Haustür haben.
Es wird definitiv einen neuen Ordnungsrahmen geben. Die Frage ist nur, ob dieser Rahmen mit den europäischen Werten und Rechtsvorstellungen in Einklang zu bringen ist. Diese zielten ja bislang darauf ab, dass alle Staaten der Welt möglichst demokratische und liberale Staats- und Regierungsformen haben sollen.
Muss man sich aus europäischer Perspektive möglicherweise von diesem doch auch egoistischen Ziel verabschieden?
Wenn man die Europäische Sicherheitsstrategie von 2003 mit jener von 2016 vergleicht, dann hat man das zum Teil auch schon getan. 2003 sah man Europa umzingelt von einem Ring von Freunden und alle Nachbarn wollten aus freien Stücken das europäische Gesellschaftsmodell übernehmen beziehungsweise der EU beitreten. Heute sprechen wir von einem Ring of Fire und autoritäre Staatssysteme gewinnen an Bedeutung – die Grundvoraussetzungen haben sich also gänzlich verkehrt.
Kommen wir zurück zur Risikomatrix: Wenn man das Bild 2021 mit jenem von 2020 vergleicht, sind viele Parallelen erkennbar. Wie lange dauert es, bis sich ein derartiges Risikobild gravierend ändert?
Wir hätten unsere Arbeit schlecht gemacht, wenn die Matrix jedes Jahr gänzlich anders ausschauen würde. Themen wie Terrorismus, Pandemien und Blackout stehen seit Jahren an prominenter Stelle und sind dort auch weiterhin zu finden. Es gibt aber auch Risiken, die neu auf der Matrix auftauchen oder sich in ihrer Bedeutung verschoben haben. Wir haben jetzt beispielsweise den USA-China-Systemkonflikt stärker auf der Agenda, weil der auch auf Themenfeldern spielt, die für Europa wichtig sind – vom 5G-Ausbau bis zum Zugang zu Wirtschaftsräumen und dem Klimawandel. Ein neues Themenfeld, das uns Sorgen bereitet, sind die gesellschaftlichen Fragmentierungsprozesse in westlichen Gesellschaften, die das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen unterlaufen.
Gibt es Risiken in der Matrix, die einen Landesverteidigungsfall zur Folge hätten?
Nein, nicht für die nächsten zwölf bis 18 Monate. Diese Risiken wären in Rot dargestellt und es gilt diese – da sie die größten Auswirkungen auf unser Land und unsere Gesellschaft hätten – durch eine entsprechende Sicherheitsvorsorge und durch präventive Maßnahmen unbedingt zu vermeiden. Man könnte unsere Risikoanalyse dahingehend auch als Chancenmatrix verstehen, die Möglichkeiten aufzeigt, die man frühzeitig ergreifen kann, damit negative Entwicklungen gar nicht erst eintreten. Dazu gehört auch, dass wir als Konsequenz der Corona-Pandemie Sicherheitspolitik in Zukunft ein Stück weit anders denken müssen.
„Viele Risiken stehen in einer wechselseitigen Beeinflussbarkeit, was weitreichende Kaskadeneffekte zur Folge haben kann.“
Inwiefern?
Wir haben in der Vergangenheit fast ausschließlich auf Eintrittswahrscheinlichkeiten geachtet und Risiken entsprechend priorisiert. Die Pandemie zeigt uns aber, dass wir vermehrt auch die potenzielle Schadensintensität berücksichtigen müssen. In unseren Analysen sehen wir außerdem, dass wie jüngst beim Bergkarabach-Krieg sehr wohl wieder Konflikte mit militärischen Mitteln geführt werden und militärische Erfolge am Gefechtsfeld in politisches Kapital umgemünzt werden können. Das galt in den vergangenen Jahren als praktisch ausgeschlossen, könnte nun aber eine Präzedenzwirkung auch auf andere Konflikte haben.
Wie sehr müssen die einzelnen dargestellten Risiken auch in ihrer Gesamtheit und als voneinander abhängig gesehen und nicht nur singulär betrachtet werden?
Das ist das wichtigste und genau das macht die Analyse auch so schwierig. Viele Risiken stehen in einer wechselseitigen Beeinflussbarkeit, was weitreichende Kaskadeneffekte zur Folge haben kann. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges etwa kann aus konfliktanalytischer Sicht durchaus als Hochschaukeln vieler kleinerer, eigentlich regional beschränkter Risiken gesehen werden. Viele amerikanische Analytiker sehen die Gefahr eines Krieges zwischen den USA und China sehr ähnlich. Einen Krieg aus strategischen Überlegungen heraus schließen sie praktisch aus. Möglicherweise könnte aber ein lokales Missverständnis oder das Fehlverhalten eines Verbündeten einen Dominoeffekt auslösen, der dann nicht mehr aufzuhalten ist und der dann natürlich auch auf Europa und Österreich gewaltige Auswirkungen hätte.
Hier steht die Sicherheitspolitische Jahresvorschau 2021 zum kostenlosen Download bereit.